Zur Ausstellung „Farbwerden“ von Andrea M. Varesco
Einführungsrede Oswald Perktold, Kunstraum Pettneu
im Kunstraum Pettneu
am 16. Juni 2006
Bei einem Ereignis – ob groß und wirkungsmächtig, ob klein und für die vielzitierte breite Masse ohne Bedeutung – interessieren nicht nur seine Inhalte, sondern auch die Umstände als Voraussetzung dafür, dass das Ereignis zu einem solchen werden konnte. Besonders deshalb, weil diese Umstände oder Ursachen nicht nur Licht auf die Oberfläche des Geschehens werfen, sondern auch das Innere, die Wesenheit erhellen.
Wenn ich einleitend kurz schildere, wie es dazu kam, dass Andrea M. Varesco im Kunstraum Pettneu ausstellt, möchte ich damit aber auch schlicht der Neugier dienen, die ich in ihrer reinen Form für eine gute menschliche Eigenschaft halte.
Bei einem Symposion des Freistaates Burgstein im Ötztal im Jahre 2000 lernte ich Andrea Varesco kennen. Unser erstes Gespräch führten wir jedoch nicht über Malerei, sondern über Architektur. Mir ist sein Wortlaut im Einzelnen nicht mehr präsent, aber ich sagte dabei ganz sicher zu ihr, dass ich einen fegefeuerlichen Strafnachlass erhoffe, weil ich auf Erden in Tirol so sehr unter schlechter Architektur habe leiden müssen. Als ich Andrea Varesco wenig später mit meiner Frau in Kaltern besuchte und mit ihren Werken und ihrer nahezu religiös-ernsten Befassung mit Themen der Kunst näher bekannt wurde, waren wir davon sehr beeindruckt. Auch deshalb, weil sich das historische Ambiente ihres Hauses, ihre Bilder und nicht zuletzt Andrea Varesco als Mensch und Künstlerin ohne störende Bruchlinien zu einem gediegenen Ganzen fügen. Mit Letizia Ragaglia (die das in ihrem Vorwort zum Katalog 2004 anmerkt) hat auch für mich Andrea Varescos nahezu obsessives Vorgehen bei der Realisierung ihrer Bilder etwas Existentielles.
Andrea Varesco ist in Montan bei Bozen geboren. Die staatliche Kunstlehranstalt St. Ulrich / Gröden schloss sie mit dem Abitur ab; die Kunstakademie „Brera“ in Mailand mit dem Diplom. Studienaufenthalte, die Teilnahme an Symposien, Kunstprojekten und Seminaren bildeten einen Teil ihrer Bemühungen, ihr künstlerisches Vermögen dem hohen Anspruch an sich selbst näher zu bringen. Seit 2002 verwirklichte sie mehrere Kunst-am-Bau-Projekte, darunter die Boden- und Wandgestaltung des Barriquekellers der Kellerei Kaltern und Farbkonzepte für die Wandgestaltung im Laubenhaus in Kaltern und im Arbeiterhaus Graf Enzenberg in Terlan. Einzelausstellungen hatte Andrea Varesco u.a. in der Galleria Pancheri in Rovereto 1991, 1992 im Circolo Culturale B. Brecht in Mailand, 1993 auf Schloss Gandegg in Eppan, in der ArtGallery Raffl in Meran 1994 und 1995; in der Galerie Creartive in Nürnberg 1996, ein Jahr später in der Galleria Graffio in Bologna, im selben Jahr in Karlsruhe in der Galerie von Tempelhoff und im Museum Heppenheim; Raumzeichen war der Titel einer Ausstellung in Bozen 1998; 2002 präsentierte sie die Grafik-Mappe Andrea Varesco/Klaus Menapace im Weingut Manicor in Kaltern und 2004 gab es die Ausstellung Obsession in der Galerie Prisma in Bozen. An Ausstellungen beteiligt war sie in Bologna, Verona, London, La Valletta, Trevi, Innsbruck, Karlsruhe, St. Gallen, Bregenz, Trapani und Pilsen – um einige zu nennen.
Als im Jahre 2002 sicher war, dass es in Pettneu einen Kunstraum geben würde, stand Andrea Varesco ganz oben auf unserer Wunschliste. Jetzt ist es so weit und ich habe eine große Freude. Auch an der Art, wie Andrea Varesco ihre Bilder in diesem Raum angeordnet hat. In einer von den täglichen medialen Müllbotschaften, dem unaufhörlichen Schwall von akustischen Signalen, dem Apparatewust und dem Konsumgetriebe vollgestopften Welt ist das klösterlich-karge Konzept eine Wohltat für alle Sinne. Die linke Wand ist nur scheinbar leer. Sie erhöht die Wirkung der gegenüberliegenden Wand mit der seriellen Folge der Spuren-Diagramme, ein kleiner Kosmos, ein DNA-Ausdruck der Malerei. Im rechten Raum sehen wir die Kartenstraße (Öl auf Leinwand), die Quarzsandmischung und das Bild mit dem Titel Farbkörper, der darauf hinweist, dass Farbe auch Körper hat. Vom großen Bild an der Ostwand (Acryl auf Leinwand) bezieht die Ausstellung den Namen: Farbwerden. Durchs offene Fenster (Acryl/Öl/ Leinw.) ist der Titel des Bildes neben dem kleinen Fenster, durch das man die mächtige Berggestalt des Hohen Riffler sieht. An Andrea Varescos offenem Fenster bin ich einmal im Innenraum, dann wieder draußen im All, und ich weiß nicht, wo ich mehr behütet oder allen Gefahren und Wundern ausgesetzt bin. Das zweiteilige Bild Gelber Horizont hat einen Zwischenraum, in dem Hochspannung herrscht (also gehörigen Abstand halten und nicht berühren!).
Der gesamte linke Raum ist von der Serie Projekt Struktur eingenommen, die die ersten Besucher kurz nach der Hängung der Ausstellung, zwei gerade des Lesens kundig gewordene Buben, die längste Weile beschäftigte. An der hinteren Wand hängt das Bild Pettneu 2005. Ich nehme es einmal als Hinweis, dass hier im Juli 2005 als Antwort auf die Frage Wozu brauchen wir einem Kunstraum? ein solcher eröffnet worden ist.
Weil eine Begegnung diese achte Ausstellung im Kunstraum Pettneu bewirkte: In Yan Martels Roman Schiffbruch mit Tiger fand ich den Satz: Menschen, denen wir begegnen, verändern uns. Ich denke, Menschen verändern uns durch ihr So-Sein und durch ihre Werke. Im Text, den die Schrifstellerin Erika Wimmer geschrieben hat, als Andrea Varescos Grafikmappe zu Gedichten von Klaus Menapace herauskam, las ich, etwas in Andrea Varescos Werken verweise auf ein Fernes, ein Weiteres, ein Anderes. - Das ist es, was die Bilder dieser Ausstellung und ihre Wirkung in diesem Raum auch für mich so anrührend, so aufregend macht. Sie lassen in mir etwas anklingen: etwas wie eine latent vorhandene Sehnsucht nach einem Fernen, sei es verflossen und scheinbar verloren, sei es ein Zukünftiges, von dem ich nicht weiß, wann und wo und wie es eintreten wird, oder sei es ein Gegenwärtiges, und ich vermag es trotzdem nicht zu fassen.
Der Schweizer Architekt Mario Botta sagte: Architektur muss den Raum aus der geistigen Welt in die reale bringen. Mich dem anschließend, sage ich, Kunst tut dies auch, denn sie ist nur deshalb Kunst, weil sie die geistige Welt in die reale bringt. Sie deckt die geistigen Räume hinter / unter realen Oberflächen auf, gibt dem Unsichtbaren Struktur, Farbe, Form und somit Gestalt und macht es so über unseren sinnlichen Wahrnehmungsapparat erfassbar. Andrea Varescos Bilder laden dazu ein, nicht laut und plakativ, sondern zurückhaltend und leise, hinter sie, in sie hinein zu schauen, uns in diesem feinstofflichen Universum zu verlieren, um zu finden und zu erkennen, dass auch das Winzigste das Größte und die vermeintliche Wiederholung wiederum ein Eigenständiges ist. Ich lese diese Bilder deshalb auch als Aussagen zur sozial-ethischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Noch besser wäre es, denke ich, du würdest solche Gedanken gar nicht denken und schon gar nicht aussprechen, weil du dich in ein solches Bild so versenken kannst, dass kein Gedanke mehr in dir ist.
Oswald Perktold
Kunstraum Pettneu