Das Unbedingte aller Gärten

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Eine kleine Beobachtung steht am Anfang. Ein Falter wird vom Wind über die Kirchhof-Mauer von Ragaz geworfen. Schon entsteht dem Dichter Welt-Innenraum. Das, was der Falter macht, beruht nach Rilke auf etwas, das als einziges Unbedingtes alle Gärten verbindet. Dieser trinkt nämlich unterschiedslos aus dem geopferten Blühen, aus den Blumen der Trauer, wie er aus den Blumen der Freude sich nährt. Sogar aus mehr Nachdenken heraus geschieht, insofern unerschöpflicher, das Blühen im Kirchhof. Das Unbedingte ist dem Dichter kein abstraktes geistiges Prinzip, kein transzendenter Seinsgrund für alles Bedingte, sondern das weltimmanente Bemühen aller Gärten, das Wachsen, Blühen, Vergehen umfasst.
Wie aber verortet Rainer Maria Rilke dieses Unbedingte aller Gärten? Er nennt dafür zwei Elemente. Er fasst es einmal als Stille der Dinge, daran kein Wort reicht. Wie später beim Komponisten John Cage wird Stille als konstitutives Element der Dinge und für die Erfahrung derselben anerkannt. Und Rilke denkt sich das Unbedingte zweitens als Warten des Gartens. Dieses reine Warten ist kein transitives Warten auf etwas. Es handelt sich um das intransitive Warten, um Warten schlechthin, das nichts erwartet. Samuel Beckett hat dieses Warten später auf die Bühne gebracht. Wenn die Stille der Dinge und das Warten des Gartens einem Herzen gelingen, wird es unbedingt. Es gelangt ins schuldlos Offene. Man ist unwillkürlich an Zen erinnert. Es entzieht sich der gängigen Welt der Bedeutungen und der Konventionen. Es gerät ins andere Wahrnehmen.

Wenn es ein Herz zu jener Stille bringt,
die Dingen eigen ist, zu reinem Warten,
wird es (mitten im Schicksal) unbedingt
und schuldlos offen: wie ein Garten,
dem, hingegeben, dass er giebt, gelingt.

Stille und Warten als stumme Instanzen eines Unbedingten. Selbst unsäglich. Allenfalls durch Worte, die in sich gegenwendig sprechen, welche die Differenz des Bedeutens in sich selbst austragen, wie das Gelingen beim Garten gesagt wird, „dem, hingegeben, dass er giebt, gelingt“. Hingegeben, dass er gibt. Paradoxe Rede einer Differenzphilosophie.

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Ich bin dankbar, dass die Südtiroler Malerin und Grafikkünstlerin Andrea M. Varesco die Herausforderung angenommen hat, für mein Symposium „Rilke in Ragaz – Der Sprung durch die fünf Gärten“ 2010 diese Grafikmappe mit fünf Radierungen zu fünf Gedichten zu schaffen. Die Auswahl des Gedichts, dem sie je einen Ausdruck zur Inspiration für die Radierung entnahm, wurde von ihr selbst getroffen. Das Resultat zeigt, dass sie das andere Wahrnehmen auf strenge Weise stilistisch konsequent praktiziert.
Alle diese Grafiken sind aus Stille gemacht. Da gibt es nichts Lautes und Aufgeregtes. Farben, Flächen und Formen verweilen wie das Warten von Gärten. Scharf abgegrenzte Bezirke, Horizontalen und Vertikalen, erzählen nicht und illustrieren nicht das im Gedicht Gesagte. Eher träumen sie. Sie dienen wie Zäune in Gärten dazu, „Mitte“ zu erschaffen. Ein anderes Wort für das Unbedingte. Einmal Mitte als Schwerkraft. Mitte auch als Welt-Innenraum. Mitte als „Binnensee“ jedes Dings. Schließlich jene „Mitte im Gedicht“, welche die konjunktivische Existenzform des Dichters darstellt.


Sieh, ich bin nicht, aber wenn ich wäre,
wäre ich die Mitte im Gedicht;
das genaue, dem das ungefähre
ungefühlte Leben widerspricht.

Über alle Territorien dieser fünf Radierungen breiten sich Gitter oder ornamentale Muster, welche die lange und sorgsame Hingabe eines Herzens genau und verträumt manifestieren, parallel zum „Zeilengitter“ des Gedichts, das vom Himmel der Geliebten überspannt wird. Bei Paul Celan heißt dann ein ganzer Gedichtband „Sprachgitter“. Nicht halten lässt sich Unbedingtes, lässt sich Mitte. Sie werden vom „Wind zerstreut“ und vom stürzenden Bach überstimmt. Weil diese Blätter das Genaue geben, nicht dem Ungefähren eines ungefühlten Lebens huldigen, wirken sie sehr persönlich und intim. Sie verraten auch beim zarten Einsatz von Schwarz/Weiß noch die Malerin. So gelingt der Künstlerin Andrea M. Varesco mit diesem Mappenwerk der souveräne Ausdruck von Intimität und Autonomie der bildnerischen Antwort auf das Unbedingte von Rilkes Gärten. Sie erschafft mit jeder Grafik Mitte, Stille, Warten.


Paul Good, Bad Ragaz